Der Regenbogen (Teil 2)

Die Wand bleibt ruhig. Jir zählt ihre Herzschläge. Sie kommt ungefähr bis fünf: "Ich bin bei Dir, seit ewigen Zeiten". Diesmal kommt die Stimme vom Fußende ihres Bettes. Jir zieht die Beine an. Etwas setzt sich aufs Bett.

Helmut Newton/©Internet
Das Etwas klemmt Jirs Decke ziemlich fest. Ein tiefer Eindruck entsteht. "Wie heißt Du - äh heißen Sie?". 'Ich lebe noch', denkt Jir. 'Und Fragen wird ja noch erlaubt sein!'. Aber eine Bettdecke in den Händen ist besser, als gar nichts. Nur mit dem Verschwinden darunter ist es jetzt "Essig"; denn die gewichtige Stimme nimmt zuviel Platz weg. Da endlich meint die Stimme: "Nenn mich: Jechov!" Die Stimme nutzt ein Rachen-CH und spricht mit deutlichem Akzent, den Jir aber nicht unterbringen kann. Das milde Licht der Nachtleuchte bleibt plötzlich an irgendetwas hängen. Eine Gestalt in einem einfachen, langen Gewand aus grobem, hellgrauen Stoff wird sichtbar. Trotz ihrer angespannten Sinne, entwindet sich Jir ein Lach-Gluckser, sieht doch diese Gestalt so aus wie der Gott, von der der jugendliche Liebhaber aus ihrer Geschichte nicht sprechen wollte: Ein uraltes Gesicht sitzt auf einem faltigen Hals, der vor lauter Bart kaum zu erkennen ist. Ein wilder, grauer Haarkranz wuschelt um das greise Haupt und die Nase steht spitz über schmalen Lippen. Knotige alte Hände ruhen auf den Knien. Das Gesicht wendet sich langsam zu Jir hin. Jir hat "Momo" gelesen. Sie würde sich jetzt nicht wundern, wenn dieser Jechov plötzlich jung und alt zugleich sein könnte, wie Mr. Hora. Aber diese Erwartung erfüllt sich nicht. Sie hört sich sagen: "Wenn spät nachts alte Männer in mein Schlafzimmer kommen, habe ich immer einen Kloß im Hals! - Bisher durfte immer nur Mama Männer mit in ihr Schlafzimmer nehmen." Jir hält inne. Sie versteht sich selbst nicht so ganz, vor allem warum sie so redet. "Wie kommst Du überhaupt hier herein - ich darv doch Du sagen?" Das f von 'darf' gerät etwas zu schlabberig. "Ja, mein Kind, du darfst! Wie ich hier herein komme? Du hast es doch gesehen. Ich bin einfach gekommen, weil Du mich gerufen hast". "Nö, müsste ich wissen". Der Alte scheint Verwirrspiele zu lieben. "Na, Du hast es vielleicht vergessen - Menschen vergessen immer sehr schnell. Vielleicht erinnerst Du Dich daran, was Du gedacht hast, als der Lover Deiner Heldin auf Reisen seine Geliebte in den Arm nahm und sie küssen wollte."
Ein Strudel von Gegenständen, Fragen, Meinungen versucht in Jirs Kopf jeglichen klaren Gedanken zu zertrümmern. Nichts hängt mehr am rechten Platz. 'Was zum Kuckuck weiß denn der, was ich gelesen und gedacht habe, verdammt noch mal! Jetzt hilft nur noch Frechheit!' schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf: "Wenn Du es doch sowieso schon weißt, dann brauchste doch nicht zu fragen!". "Oh, meine Liebe - ", der Alte zaubert tatsächlich ein gewinnendes, breites und unendlich gutmütig aussehendes Lächeln auf seine Züge, "es ging nicht um mich, sondern darum, dass Du Dich erinnerst". "Äh - aja, ich habe an meinen richtigen Papa gedacht".

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