Der Regenbogen

© Ekkard Brewig, 7. Dezember 1996 / 7. Mai 2004

Helmut Newton/©Internet
Jir liest, schaut auf, liest weiter. Sie schmiegt sich tiefer in die Kissen. Die Geschichte verlangt, wach zu bleiben. Seite um Seite baggert sie den Schlafvorrat weg. Sie fühlt schon jetzt die Müdigkeit des jungen Tages, der vor fünf Minuten erstanden ist. Jir will mit dem Kopf durch die Papierblätter vor ihr. Sie muss einfach wissen, ob "sie sich kriegen". Doch der Autor versteht sein Handwerk. Die Verwicklungen beginnen, bunte Kreise und kleine, glitzernde Irrlichter in Jirs Hinterkopf zu projizieren. Die Heldin und ihr Gefährte in der Geschichte haben beschlossen, eine große, einfache, aber weite Reise zu unternehmen, nachdem sie sich nach vielen Irrungen endlich wieder versöhnt haben. Die Fahrt beginnt, und die ersten Eindrücke lassen unsere Heldin verzückt ausrufen: "Gott, was habe ich lange keine Landschaft mehr gesehen!". Darauf er: "Lass diesen alten Tatterich mit Wallebart aus dem Spiel, den braucht hier niemand. Hier gibt's nur uns beide." Er fasst unsere Heldin um die Taille, will ihr einen zärtlichen Kuss aufdrücken. Jir seufzt. Alle Fasern ihres Körpers sehnen sich nach Zärtlichkeit, nach Geborgensein, nach starken Armen die, die sie tragen. Andere Mädchen haben wenigstens einen Vater.

Ihr bleibt nur eine Mutter, die mit allen ihren Männern nur Schabernack getrieben hat.
Niemand von denen ist geblieben, weil Mama niemals einen ernst nehmen wollte. Von ihrem leiblichen Vater hat sie nie etwas gehört. Er muss eine jener vernachlässigbaren Groessen gewesen sein, für die Mama immer nur abfällige Bemerkungen übrig hatte. Papa? - Wie mochte er sein? Groß, klein, töricht genug, sich in Mama zu verlieben, klug genug, sich rechtzeitig abzunabeln, belesen, ein Philosoph, gar Professor?

Aus dem seitlichen Dunkel schräg hinter dem Lichtkegel der Nachtleuchte ertönt eine tiefe Männerstimme: "Alt" - mehr nicht. Jirs Kopfhaut zieht sich an einem Punkt des Hinterkopfes zusammen. Ihr Herz versucht, ihr ganzes Blut auf einmal durch den Körper pressen. Ihre Lungen pumpen sich auf, ein spitzer Schrei quetscht sich durch die Kehle. Jir sitzt jetzt senkrecht in den Kissen, starrt auf die Stelle der dunklen Wand, die "Alt" gesagt hat. Beide Hände krampfen sich um den Rand der Bettdecke. Jir wird beim kleinsten Mucks der Wand schreien und sich blitzartig unter der Decke verkriechen.

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