Der Spiegel, Teil 2

 

Heute erinnere ich mich nur noch schwach an die wenigen Male, an denen ich die weite Reise unternommen habe. Und ich bin jedesmal ein anderer gewesen. Erst "stud. rer. nat", dann "cand. rer. nat", dann "Dipl. Phys.", schließlich nach abermals 4 Jahren "Dr. rer. nat.".

Irgendwann habe ich meine Braut vorgeführt. Später waren wir einmal als junges Paar dort, ein paarmal mit den Kindern, dann zu den beiden Beerdigungen. Heute wohnt noch eine Tante in jenem Dorf "am Rande der Welt". Und ich muß gestehen, daß ich meine Tante noch mehr vernachlässige als meine Großeltern. Sie kommt eher zu uns als andersherum.

‘Mein Zimmer’ sieht heute noch fast so aus wie am 16. Februar 1962. Sogar das Radio hat noch lange dort gestanden. Die Gäste des großelterlichen Hauses werden den Spiegel an der Wand kaum bemerkt haben, aber er hängt heute noch so, wie 1962.

Meine erste Frage hat das Leben beantwortet.

Doch vor jenem unscheinbaren, einfachen Spiegel mit weißer Kunststoff-Einfassung hängt stumm meine zweite Frage.

Sie schaut in den Spiegel, sie erspäht die vielen kleinen und großen Veränderungen in dieser Welt und an den Leuten, die ebenfalls in den Spiegel schauen. Dann, wenn niemand zuschaut, faltet sie ihre Schwingen auseinander, schiebt sich zum Fenster hinaus in die Melancholie der Tage, schwebt über der Welt und liest die Gedanken der Menschen, Tiere und Pflanzen denen sie begegnet. Sie tanzt mit dem Regen, schraubt sich mit dem Wind in die Wolken, zuckt mit den Blitzen zur Erde zurück und taucht durch Bäche, Seen und Flüsse zum Meer.

Dort, wo sich die Sonne am stärksten im Wasser spiegelt und sich in Myriaden von Leuchtpunkten auflöst, schießt sie aus den Tiefen des Ozeans in die Unendlichkeit des himmlischen Blaus.

Und endlich nach Jahrzehnten kehrt ihr Echo tausendfältig auf die Erde zurück und sammelt sich an ihrem Ausgangspunkt vor dem Spiegel. Aber ihre lange weite Reise hat die Betonung geändert: "Gott, wer bist Du?"

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