Der Spiegel

© Ekkard Brewig, 30. August 1996, Fassung Weihnachten 1997 / 11. Mai 2004

Ich stehe vor dem Spiegel, dem ich regelmäßig mein Guten-Morgen-Gesicht gezeigt habe. Mein uraltes UKW-Radio, selbst repariert, plappert vor sich hin: "Heute ist Freitag, der 16. Februar 1962. ...". Es folgen irgendwelche Nachrichten, Vietnam, Chruschtschow, schließlich, das Wetter. Der Wetterbericht ist das Einzige, was irgend eine spürbare Realität besitzt. Ich stecke den Kopf aus dem Fenster. Dort herrscht jene Melancholie aus der Feuchte des vergangenen Regens, blaugrauer Dämmerung und fernen unbestimmten Geräuschen. Eine Krähe kreischt. Im Zimmer hinter mir brennt Licht und die Morgenmelodien schlängeln sich durchs Zimmer. Langsam schleiche ich zurück zu meinem Platz vor dem Spiegel.

Als ich so auf meine Dachbude zurückschaue, drängen sich zwei Fragen durch den Schleier der Müdigkeit:

  1. In welcher Weise werde ich ein anderer sein, wenn ich mein geplantes Physikstudium hinter mir habe?
  2. Gott, wer bist Du?

große Puppe

Die vergangenen Tage haben Fakten zurückgelassen. Die Abiturprüfungen liegen hinter mir. Ich weiß, daß ich nur noch in meinem Lieblingsfach Mathematik geprüft werde. Und ich habe mich in Köln bei der Uni angemeldet.

Hinter mir liegt also buchstäblich die Vergangenheit - ein zerwühltes Bett, ein Einbauschrank, ein altes Radio, ein Schreibtisch mit meinen Schulsachen. Vor mir mein Gesicht, das anders sein wird, wenn ich je noch mal hier einkehren sollte. Ich weiß jetzt schon, daß es selten sein wird. Ich liebe und achte meine Großeltern, bei denen ich all die Jahre gelebt und das Gymnasium durchlitten habe. Aber Köln, und dieses Dorf am Rande zum Saarland liegen zu weit auseinander, um häufig herzukommen.

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