Der Regenbogen (Teil 4)

Jechov angelt sich den Stuhl an Jirs Bett, hängt Jirs Klamotten in den Schrank, die Unterwäsche und die Strümpfe an die Haken für "alles Mögliche", wie Mama die Dinger nennt, dann setzt er sich. Die pedantische Art, wie Jechov die Sachen wegräumt, lassen Jirs Innerstes erbeben. Sie mag Ordnung nicht. Es reicht, was sie von ihrer Mutter zu hören bekommt. Sie braucht keine Vaterfigur, die ihr unmissverständlich klarmacht, dass man aufräumen muss. "Du hast nur ein schlechtes Gewissen, meine Dame!" Jechov scheint tatsächlich ihre Gedanken zu lesen, "ich suchte nur nach einer Sitzgelegenheit. Wenn eine liegt und der andere steht, so spricht es sich nicht sehr gemütlich! - Das war alles." Jir hat das dringende Bedürfnis, schnell ein anderes Thema anzuschneiden. "Als Du nur eine Stimme warst, hast Du gesagt, Vater sei alt. Wie hast Du das gemeint?" - "Nun", Jechov lächelt milde, "Du bist jetzt 16. Vor 16 Jahren war Deine Mutter 27 Jahre alt und auch sie träumte damals noch von einer starken Vaterfigur. Sie liierte sich mit einem Mann, der 18 Jahre älter war, damals also 45. Er ist heute 61. Nach Deinen Maßstäben ein 'Grufti'. Er selbst sieht das zweifelsfrei anders."
'Ja, ja, die Erwachsenen ... wann werden sie lernen, die Wahrheit zu erkennen?' Jir stürzt so schnell in den längst überfälligen Schlaf, dass Jechov nur noch übrigbleibt, das Nachtlicht auszuknipsen und still in jenes Reich zu verschwinden, aus dem er gekommen ist: "Also heute keine Fragen mehr, kleine Jir!".
Als Jir aufwacht, ist es eine Minute vor ihrer Weckzeit. 'Noch ein bisschen!'
denkt es in ihr, 'noch diese kurze Gnadenfrist, dann hat mich der Alltag wieder, die Schule und alles.' Die träge dahin-taumelnden Gedanken melden ihr, dass ihr das Wort 'blöde' vor Schule, das sie sonst so gerne gebraucht, heute abhanden gekommen ist. Ihr fällt der nächtliche Besucher wieder ein, wie heißt der doch gleich, Jasov - nee, Jechov mit Rachen-ch. "Jechov" flüstert sie leise, "bist Du da?" Aber Jechov scheint sie nicht zu hören - oder alles war nur ein Traum. Da klopft es an die Tür. Zeitgleich nervt der Wecker mit immer lauter werdendem Piepsen, dass in einem Stakkato endet. Jir springt auf die Füße, schließt ihre Zimmertür auf. Sie schließt immer ab, wenn sie allein im Haus ist. Man hört so viel ...
Vor ihrer Zimmertür steht Jechov als Mittfünfziger im grau-blauen Fischgrät-Straßenanzug mit Krawatte, lächelt und meint: "Guten Morgen, junge Dame, ein Frühstück gefällig?: Tee, 2 Brote, eins mit Käse eins mit Honig, ein Becher Joghurt und ein Glas Apfelsaft - bitte sehr". "Oh, danke vielmals, der Herr. Wollen der Herr vielleicht mit-speisen. Wir können ja die Brote teilen." - "Aber gerne, meine Dame! - Übrigens ich heiße Franz Michaelsen, bin aus Hamburg kürzlich hierher gezogen, wohne ganz in der Nähe und möchte Deine Mutter heiraten - so, nun bin ich es los!"
Jir hört gar nicht richtig zu. Inzwischen steht Jechov mit dem Tablett über dem zerwühlten Bett, schiebt Decke und Federbett zur Seite und stellt das Frühstück mitten auf das Laken. Jechov nimmt am Fußende und Jir am Kopfende Platz. Beide müssen etwas schräg zulangen. Wenn sie sich ansehen wollen, dann bleibt ihnen nur, sich tüchtig zu Seite zu drehen.

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