Die freie Auswahl

© Ekkard Brewig, 11. Januar 1998 / 3. Mai 2004

große Puppe

Der letzte warme Wind in diesem Jahr trägt Fetzen der ewig jungen Melodien herüber, wie sie von Karussells ausgehen, als seien sie selbst das Musikinstrument.

Es ist Kirmes im Dorf.

Noch rosten in dunklen Ecken die Reste des Krieges: Bruchstücke von Zahnrädern, Bolzen und entschärfte Patronen - aber auch manche scharfe Kartusche. Der Vater ist nicht zurück gekommen. Das erste gute Geld nach dem großen Sterben ist in Umlauf aber ein knappes Gut. Uns Kindern fehlt eigentlich nichts zum Glück. Es könnte von den schönen Dingen, wie Puppen oder Spielzeug-Eisenbahnen etwas mehr sein. Auch bohrt sich manchmal der Heißhunger nach Schokolade - fast ein exotisches Fremdwort - durch die bunte Welt der Kinderphantasie. In dieser kargen Zeit gedeihen denn auch große Wünsche.
So nährt die kleine Ute den Wunsch nach einer lebensgroßen Puppe in ihrem Kinderherz. Ach, sie würde sie anziehen und kämmen und an Sonntagen besonders schön herausputzen. Alle anderen Mädchen würde sie mitspielen lassen. Das tägliche Spiel mit ihren Freundinnen, "Vater, Mutter, Kind", würde sich in ganz neue Dimensionen aufschwingen.
"Hier habt ihr jeder zwei Mark! Ihr dürft auf die Kirmes" Unsere Mutter zeigt Verständnis für das leise Klingen der Melodien und ihr Mitschwingen in uns.
Zwei Mark! - Ein Vermögen für die damalige Zeit. Wir flogen förmlich die Treppe hinunter. Der schmetternde Klang der zuschlagenden Haustüre verhallte ohne Erinnerung.
Kaum fünf Minuten später hüllte uns der Duft von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Lebkuchenherzen ein. Die Melodien des Karussells und der Schiffschaukel, die Beschwörungen der Geisterbahn und das Klatschen den Kugeln aus den Schießbuden bohrten sich in die Gehörgänge und ließ Erwartungen ins nie Gekannte bis Unermessliche sprießen.
"Komm' mit, wir fahren Schiffschaukel!" Mein Klassenkamerad Gerhard zupfte mich am Ärmel. Er sagte tatsächlich "fahren", obwohl man sich vielmehr "aufschwingt", bis man sich schließlich Kopf über überschlägt und in einem wilden Kreis um die tragende Achse schwingt. Zu solchen wilden Überschlägen wollte Ute nicht mit. Sie verschwand mit ihrer Freundin Brigitte in Richtung Zuckerwatte und Lebkuchenherzen. Die wogende Masse saugte die Schwester und ihre Freundin innerhalb von Sekunden auf wie ein heißer Sommerwind den feuchten Fleck auf dem Hof.

blättern: weiter >