Die freie Auswahl (Teil 2)

Gerhard und ich verlängerten die Schlange der Wartenden vor der Schiffschaukel. Fasziniert verfolgten unsere Blicke die Schaukler, wie sie in ihren zwei Minuten das Gefährt zum Schwingen brachten - und - vergaßen die lästige Wartezeit. Die älteren Jungen brachten gelegentlich ihre Freundin mit in die Gondel. Bei den wilden Schwingungen flogen deren Kleider im sausenden Luftzug nach oben und gaben den Blick auf die Oberschenkel frei. Damals empfand ich dies als höchst ungehörig.
Gleichwohl schien es den anderen großen Jungen und sogar den Männern zu gefallen. Wenn wieder einmal ein Rock so richtig hoch geflogen war, dann johlten sie aus voller Kehle und pfiffen auf zwei Fingern, was die Lungen hergaben.
Dann ebbte die lärmende Volkeslust unvermittelt ab. Einem Paar war es gelungen, das Schiffchen so anzutreiben, dass sie fast den oberen Totpunkt überwunden hätten. Doch wieder ging es auf derselben Seite abwärts. Ein trauriges "ooh" entrang sich den Kehlen der Zuschauer, um im gleichen Atemzug in ein anfeuerndes "hoh - ruck!, hoh - ruck" überzugehen. Und schon war es soweit: Diesmal reichte der Schwung zum Überschlag - einmal - und noch mal und wieder. Jedesmal spornten die nach oben gerichteten Münder die beiden Helden an. Deutlich war die wilde Beschleunigung zu erkennen.
Leider gab es dann den üblichen, schrammenden Rums. Schlagartig krallte sich die Bremse an der Gondel fest, noch einen kleinen Schwinger - dann war die Herrlichkeit zu Ende und die Beiden hatten ihr Geld abgeschaukelt.
Nun waren wir beide an der Reihe. Für den horrenden Preis eines Viertels meines Kirmesgeldes teilten Gerhard und ich uns eine Gondel, hielten uns gut fest und versuchten auch den Überschlag. In einem herrlichen Auf-und-Ab entschwebten wir der bodennahen Welt, um ihr im nächsten Augenblick um so heftiger entgegen zu fallen. Höher und höher reichten die Ausschläge unserer kleinen Gondelwelt, bis wir vergaßen, dass wir uns bewegten. Nein, abgesehen von den Anstrengungen unserer Beine standen wir still und die Welt dort draußen wuchs an, verkleinerte sich, wuchs wieder und so weiter in einem wilden Taumel. Ja, unsere Seelen schwebten hin und her. Der Rhythmus der Musik verzauberte die herbstliche Sonnenwelt und ihr buntes Kirmesvolk zu einer Symphonie schwingender Farben und Melodien.
Mit einem scharfen, grummelnden Schleifen, holte uns der Budenbesitzer auf die Erde zurück. Wir wurden wieder zur schiebenden, drängelnden Volksmasse. Irgendwo hörte man das gelegentliche Tuten einer Sirene, wenn an einer der Losbuden jemand "die Freie Auswahl" gewonnen hatte. Ich mag Losbuden bis heute nicht. Wenn ich Lose ziehe, dann gewinne ich Nieten.

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